Ein einheitliches allgemein anerkanntes System der Kriminalwissenschaften gibt es bis heute in Deutschland nicht. Der Grazer Untersuchungsrichter und Staatsanwalt Hans Groß erkannte bereits vor über 100 Jahren, dass der Sachbeweis in hervorragender Weise geeignet sein kann, die Beweisführung auf möglichst objektive Weise durchführen zu können. Bereits 1893 gab er sein „Handbuch für Untersuchungsrichter“ heraus, in dem er ein System der Kriminalistik präsentierte, das weltweit eine maßgebliche Ausbildungs- und Arbeitsgrundlage für die Verbrechensaufklärung wurde. In Deutschland führte Geerds sein Werk weiter. Er verstand 1977 unter Kriminalwissenschaften "alle diejenigen Disziplinen, die sich in dieser oder jener Form primär mit dem kriminellen Verhalten von Menschen befassen"[1]. Er unterteilte (wie Groß) in Juristische und Nichtjuristische Kriminalwissenschaften und ordnete ihnen unmittelbar die Kriminalpolitik zu. Die Nichtjuristischen Kriminalwissenschaften unterteilte er in Kriminologie und Kriminalistik (Grafik 1).[2]
Dieser Systematik folgten im Wesentlichen Herren 1982[3] und Clages 1983[4], während Mergen 1983 die Kriminalistik nur im System der Kriminologie für denkbar hielt.[5] Auch Klink/Kordus sahen 1986 die Kriminalistik als Teilgebiet der Kriminologie, die sie in die Lehre von der Verbrechensbegehung/ -entstehung (Phänomenologie, Ätiologie, Viktimologie), die Lehre von der Verbrechensbekämpfung (Prävention, Repression, Pönologie) und Kriminalistik mit den Disziplinen Kriminalstrategie, -taktik und -technik unterteilten.[6]
1990 wird im kriminalistischen Lehrbuch der Polizei eine an der Praxis orientierte Kriminalwissenschaft mit den Disziplinen Strafrecht, Kriminalpolitik, Kriminologie (Phänomenologie/ Ätiologie) und Kriminalistik veröffentlicht.[7] Während sich die Kriminalistik als eigene Wissenschaft in den 90er Jahren auch in der BRD langsam etablierte, wurde ihr teils, z. B. von Kube (BKA), die Qualifi-kation als selbstständige Wissenschaft aberkannt.[8] Diese Auffassung stiess bereits damals insofern auf Verwunderung, als Kube selbst bereits 1984 "eine facettenreiche Institutionalisierung (einer wissen-schaftlichen Kriminalistik), die von der Einrichtung eines Kriminalistikstudiums an (einer) Universität(en) über das verstärkte Engagement bestehender krimino-logischer Forschungseinrichtungen an Hochschulen oder wissenschaftlichen Institutionen für kriminalistische Studien bis zum Auf- und Ausbau polizei- und justizinterner Forschungsstellen reichen sollte“[9], forderte. Aus historischer Sicht erscheint zumindest strittig, ob die Kriminalistik aus der Kriminologie hervorgegangen ist oder umgekehrt.[10] Der Versuch, die Kriminalistik als Bestandteil der Rechtsmedizin zu betrachten, erscheint "völlig abwegig“[11], denn "die Rechtsmedizin … vermag nur bloße Teilaspekte der Kriminalistik" abzudecken.[12] Zweifelsfrei kann die Rechtsmedizin auf eine lange historische Tradition zurück-blicken, als eine der Kriminalistik übergeordnete Wissenschaft kann sie deshalb noch lange nicht angesehen werden, zumal sie die Kriminalistik nur in be-stimmten Teilbereichen unterstützt (z.B. bei Klärung der Frage, ob Fremdver-schulden, Suicid, Unfall oder natürlicher Tod in einem bestimmten Einzelfall vorliegt oder zur Feststellung der Todesart, -ursache und Todeseintrittszeit). Bei Erörterung eines Systems der Kriminalwissenschaften darf heute vor allem nicht mehr unbeachtet bleiben, dass die "Kriminalistik zunehmend neue Ansätze entwickelt (hat) und insgesamt einer theoretischen Fundierung zugeführt“ wurde[13], sich "die (wissenschaftliche) Kriminalistik inzwischen weiter entwickelt hat, als dies allgemein in der Kriminologie angenommen wird"[14] und "der überwiegende Teil der deutschsprachigen Kriminologie (ebenso wie die angloamerikanische und die sozialistische Kriminologie) die Kriminalistik aus dem (unmittelbaren) Erkenntnisinteresse" ausklammerten.[15]
Allgemein erscheint die Kriminalistik bereits 1993 "selbstverständlich" als eigene Wissenschaft im System der Kriminalwissenschaften anerkannt zu sein.[16]
Zwar konnte sich die Kriminologie im Gegensatz zur Kriminalistik zwischenzeitlich an fast allen juristische Fakultäten und/oder sozial- und erziehungswissen-schaftlichen Fachbereichen der Universitäten (als eigene Wissenschaft) eta-blieren, die Belange der Kriminalistik (z.B. Methoden zur Aufklärung, Täter-ermittlung oder Verdachtschöpfung, Anwendung wissenschaftlicher Denk-methoden, Beweislehre, Spurenkunde, -sicherung, Fahndung oder verdeckte Informationsbeschaffung) vermag sie bis heute nicht abzudecken.
Eine (1984) vorgeschlagene "Arbeitsgliederung zu einer systematischen Ableitung des Themas Theorie der Kriminalistik" wurde bis heute leider nicht weiterentwickelt.[17]
Bleibt hier die (nicht neue) Frage, warum sich zwar die Kriminologie, nicht aber die Kriminalistik in der BRD an den Universitäten durchsetzen konnte, obwohl erste Ansätze dazu bereits 1970/71 an den Universitäten in Köln und Münster[18], vor allem aber 1978 an der Universität in Ulm[19] deutlich erkennbar waren und bereits 1984 die Notwendigkeit kriminalistischer Kenntnisse „gerade für Juristen offensichtlich nicht nur wünschenswert“ erschien, sondern „sogar ein ausgesprochenes Bedürfnis dafür besteht“.[20]
Im Falle der Universität Ulm dürfte dies wohl an der damaligen Haushaltssituation gelegen haben.[21] Die Antwort auf diese Frage wurde im Zusammenhang mit der „Abwicklung der Sektion Kriminalistik“ an der Humboldt-Universität in Berlin deutlich. Diese Sektion wurde „mangels Bedarfs“ nicht fortgeführt.[22] Diese Entscheidung des Berliner Senats wurde von in- und ausländischen Experten mit Verwirrung und Bestürzung zur Kenntnis genommen, zumal eine 1991 eingesetzte und mit renomierten Experten besetzte Personal- und Strukturkommission die Eliminierung der Kriminalistik als Universitätsdisziplin als Rückschritt in der Wissenschaftsentwicklung mit gravierenden Folgen für die Kriminalitätsbekämpfung ansah. Der Empfehlung, die Kriminalistik als Universitätsfach neu zu begründen, vermochte der Berliner Senat dennoch nicht zu folgen.[23] Die Auswirkungen dieser Entscheidung für die Kriminalistik wurden bereits anfangs der 90er Jahre kontrovers diskutiert[24] und sind heute noch deutlich spürbar, vor allem im Bereich der kriminalistischen Forschung. Somit bleibt auch heute nur festzustellen, dass „die Situation bei der Kriminalistik nur besser werden kann“, wie Störzer bereits 1984 feststellte.[25]
Wenn es aber in der BRD kein universitäres Lehrfach Kriminalistik gibt, obwohl die Notwendigkeit dafür heute mehr und mehr gefordert wird,[26] bleibt die Frage, wie man dieses Defizit ausgleichen kann. Aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre bieten sich hier die Verwaltungsfachhochschulen des Bundes und der Länder an, die „notgedrungen“ dieses Vakuum zunächst in der Lehre und dann wohl auch in der Forschung zusammen mit den bereits etablierten Forschungsstellen schliessen könnten. In der länderübergreifenden Zusammenarbeit könnten arbeitsteilig unter der Koordination des BKA entsprechende Projekte bei teils noch zu realisierender Ausstattung in Angriff genommen und ein einheitliches System der Kriminalwissenschaften entwickelt werden.
Außerdem wurde mit Gesetz vom 15.02.2005 über die Deutsche Hochschule der Polizei[27] in der ausführlichen Begründung[28] klar gestellt, dass die Kriminalistik nicht in der Polizeiwissenschaft aufgeht, sondern selbstständige Wissenschaft bleibt.
Damit besteht für die künftige Deutsche Hochschule der Polizei (ehem. PFA = Polizeiführungsakademie) die Möglichkeit, einen Lehrstuhl für Kriminalistik ein-zurichten. Hierdurch könnte die Kriminalistik in Deutschland nach langem ver-geblichem Bemühen einen deutlichen Aufschwung erfahren.
Allgemein anerkannt (auch an der PFA) scheint heute das in der Grafik 2 dargestellte System der Kriminalwissenschaften zu sein, welches das bereits in der Grafik 1 vorgestellte Modell modifiziert [29].
Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um das Modell von Hans Groß, dass so bereits über 100 Jahre Bestand hat und die Rechtswissenschaften nach wie vor in das kriminalwissenschaftliche System einschließt. Bei näherer Betrachtung wird nämlich deutlich, dass man sich in der Vergangen-heit bei Erörterung der Kriminalwissenschaften nicht immer hinreichend exakt an wissenschaftstheoretischen Kriterien orientierte und den (wissenschaftlichen) Begriff in der Regel aus der Disziplin ableitete, der der jeweilige Verfasser gerade angehörte, gewöhnlich aus Sicht der Kriminologie, Rechtsmedizin oder Rechts-wissenschaften. So wurden wissenschaftstheoretische Gegenstands- und Me-thodendiskussionen bei Erörterung der Wissenschaftlichkeitsfrage oft zugunsten subjektiver Einschätzungen vernachlässigt.[30]
Nahezu alle Verwaltungsfachhochschulen in Bund und Länder bietet in ihren Curricula in den Studienfächern der Kriminalwissenschaften ein klar strukturiertes System an, das den Studierenden sowohl die Inhalte dieser Wissenschaften nachvollziehbar präsentiert, als auch die zu anderen Studienfächern bestehen-den Berührungspunkte verdeutlicht. Ausgangspunkt dieses Systems ist die heute mehr und mehr um sich greifende Auffassung, dass die Teilbereiche Kriminologie, Kriminalistik und kriminalistisch-kriminologische Forschung die drei tragenden Säulen der Kriminalwissenschaften darstellen.
So erscheinen die auf Hans Groß zurückgehenden Modelle (siehe Grafik 1 und 2) aus folgenden Gründen diskutabel:
1.
Die Einteilung in juristische und nichtjuristische Kriminalwissenschaften vermag nicht mehr zu überzeugen. Juristische Kriminalwissenschaften sind Rechtswissenschaften.
2.
Der eigenständige Bereich der Kriminalistik wird nur sehr undifferenziert berücksichtigt.
3.
Die Bereiche Prävention und Repression werden in beiden Modellen nicht dargestellt.
4.
Kriminalstrategie ist zweifelsfrei (auch) ein wesentlicher Bereich der Kriminalistik, sie kann jedoch nicht nur als eine Disziplin der Kriminalistik angesehen werden. Sie ist, wie die Kriminalpolitik und –prävention auch, als ein überdisziplinärer Bereich anzusehen, wie noch näher auszuführen sein wird.
Kriminologie und Kriminalistik, obwohl vor allem in den Bereichen Tätertypologie, Kriminalpsychologie, -geographie, Viktimologie und Phänomenologie eng mit-einander verzahnt, sind völlig unterschiedlich orientiert und eigenständige Dis-ziplinen. Aufgrund des Sinnzusammenhanges erscheint die Untergliederung der Kriminalis-tik in einen Allgemeinen und Besonderen Teil sowie in die Bereiche Kriminaltech-nik und Rechtsmedizin sinnvoll.
Als Diskussionsgrundlage wurde bereits 1997 ein Modell eines Systems der Krimi-nalwissenschaften angeboten, welches sich aus den Curricula der Fachhoch-schulen des Bundes und der Länder ergibt und bestehende organisatorische Gegebenheiten und praktische Erfordernisse weitgehend berücksichtigt.[31]
Dieses in der Zwischenzeit teils überarbeitete System der Kriminalwissen-schaften wird in der folgenden Grafik 3 dargestellt:
Zur weiteren Diskussionsgrundlage wurde folgendes Basismodell "Kriminalwissen-schaften" vorgeschlagen [32] :
Soweit ersichtlich, wurde der Themenbereich "System der Kriminalwissen-schaften" in den letzten Jahren - zumindest in Deutschland - nicht mehr erörtert. Somit bleibt fraglich, ob juristische Disziplinen künftig weiter unter diesem Wissenschaftsbereich zu subsumieren sein werden. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kriminalistik (DGFK) hat diesen Themenbereich nicht weiter aufgegriffen.[33]
Quellen
[1] Groß/Geerds: "Handbuch der Kriminalistik", Band 1, 1977, 10. Auflage, S.12 ff. [2] Groß/Geerds a.a.O. S. 12 ff.
[3] Herren: "Denktraining in Kriminalistik und Kriminologie", 1982, S. 19 ff. [4] Clages: "Kriminalistik für Fachhochschulen", 1983, S. 19 [5] A. Mergen: „Die Kriminalistik im Wissenschaftssystem der Kriminologie". In BKA-Forschungsreihe "Wissenschaftliche Kriminalistik", Band 16, Teilband 1, 1983, S. 20 [6] Klink/Kordus: "Kriminalstrategie - Grundlagen polizeilicher Verbrechensbekämpfung“, 1986, S. 14 ff.
[7] "Kriminalistisches Lehrbuch der Polizei", Dt. Polizeiliteratur GmbH, 1990 [8] Kube/Schreiber, in: "Kriminalistik - Handbuch für Praxis und Wissenschaft", (Hrsg.: Störzer/Kube/Timm ), Band 1, 1993, S. 4 ff., und in: KRIMINALISTIK, Heft 10/93, S. 606 [9] Kube in BKA-Forschungsreihe "Wissenschaftliche Kriminalistik", Band 16, Teilband 2, 1984, S. 413 ff. [10] Mergen: „Die Kriminalistik im Wissenschaftssystem der Kriminologie". In: BKA-Forschungsreihe Wissenschaftliche Kriminalistik, Band 16, Teilband 1, 1983, „S. 14 [11] Leonhardt, KRIMINALISTIK, Heft 7/93, S. 435 [12] Kube a.a.O. S. 413 ff. [13] Kube/Timm in "Kriminalistik - Handbuch für Praxis und Wissenschaft", (Hrsg.: Störzer/Kube/Timm), Band 2, 1994, S. 776 [14] Kube/Timm a.a.O. S. 778 [15] Kube/Schreiber a.a.O. S. 4 [16] W. Burghard. In: KRIMINALISTIK, Heft 2/93, S. 144; Burghard/Schreiber. In: KRIMINALISTIK, Heft 5/93, S. 286; Leonhardt. In: KRIMINALISTIK; Heft 7/93, S. 435
[17] H.-J. Kerner: "Theoretische Grundlagen der Kriminalistik". In: Kube in BKA-Forschungsreihe "Wissenschaftliche Kriminalistik", Band 16, Teilband 2, 1984, S. 413 ff. [18] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 347 [19] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 350 [20] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 408 [21] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 351 [22] Leonhardt/Schurich: „Die Kriminalistik an der Berliner Universität", Kriminalistik Verlag 1994, S. 110 [23] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 111/112 [24] KRIMINALISTIK, Heft 10/90, S. 511 ff., Heft 1/93, S. 49 ff., Heft 5/93, S. 286, Heft 6/93, S. 345 ff., Heft 7/93, S. 426 ff. und 435, Heft 8-9/93, S. 517 ff. [25] Wissenschaftliche Kriminalistik, BKA-Forschungsreihe, Band 16/2, 1984, S. 408 [26] Weihmann, R: „Kriminalistik Curriculum“. In: KRIMINALISTIK 11/2005 S. 628 ff. [27] GVBl. NW 2005 S. 88 [28] Landtagsdrucksache NW, 13/6258 S. 23, 24
[29] Berthel, R., Schröder, D.: „Kriminologie und Kriminalistik im System der Kriminalwissenschaften“. In: Grundlagen der Krimina- listik/Kriminologie; Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik/Kriminologie, S. 13, VDP, Hilden, 2005
[30] vergl. hierzu Dr. Leder, H.-C.: „Professionalisierung – Wege und Formen“. In: KRIMINALISTIK Heft 8/00 S. 552 ff.
[31] Schmelz, G.:“Das System der Kriminalwissnschaften“. In: KRIMINALISTIK Heft 8-9/97 S. 557 ff.
[32] Ackermann, u.a. In: KRIMINALISTIK Heft 9/00 S. 598